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Reichen nahm den toten Agenten ihre Waffen, Schlüssel, Handys und Bargeld ab, dann machte er Claire ein Zeichen, ihm zu dem Geländewagen zu folgen, der draußen auf der Straße geparkt war.
„Wohin fahren wir?“, fragte sie ihn, als sie in das Fahrzeug stiegen und Reichen mit quietschenden Reifen losfuhr. „Es wird nicht lange dauern, bis Wilhelm uns die halbe Agentur auf die Fersen hetzt.“
Reichen quittierte die Bemerkung mit einem grimmigen Nicken. „Wir können nicht in Hamburg bleiben. Es wäre wahrscheinlich klüger, ganz aus Deutschland zu verschwinden.“
„Und wohin? Er hat Kontakte in ganz Europa. In den Dunklen Häfen oder der Agentur können wir niemandem mehr trauen. Man würde uns bei der erstbesten Gelegenheit an ihn ausliefern.“
„Dem Orden können wir vertrauen.“
Im Augenwinkel sah Reichen, dass Claire zweifelte.
„Dem Orden? Was ich über die gehört habe, sind sie alles andere als hilfsbereit. Warum würde eine gefährliche Killertruppe in den Staaten uns helfen wollen?“
Reichen widerstand dem Drang, ihre Meinung über den Orden zu korrigieren. So wie sie dachte der Großteil der Vampirbevölkerung schon seit Generationen, auch wenn es ungerechtfertigt war. Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Ich habe seit fast einem Jahr immer wieder mit Lucan, Tegan und den anderen Kriegern zusammengearbeitet. In der Nacht, als mein Dunkler Hafen angegriffen wurde, war ich nicht in Berlin, sondern in einer Ordensmission unterwegs. Wir waren dabei, Informationen über einige Gen-Eins-Morde zu sammeln und möglichen Verbindungen zu Blutclubs in ganz Europa nachzugehen.“
„Du und der Orden... arbeitet zusammen?“ Sie wurde sehr still und sah ihn nachdenklich an, als er den Geländewagen auf eine verkehrsreiche Allee lenkte, die aus Hamburg hinausführte. „Es gibt so viel, was ich nicht über dich weiß, Andre. Alles an dir scheint jetzt so anders.“
Nicht alles, dachte er und erinnerte sich nur allzu gut daran, wie vertraut es sich angefühlt hatte, als sie sich an ihn gepresst hatte, an ihren Mund auf seinem in einem hitzigen Kuss.
Sie erweckte in ihm Gefühle von Besitzgier, und er wollte sie um jeden Preis beschützen. Genau was er damals, schon ganz am Anfang ihrer Beziehung, für sie empfunden hatte. Die Zeit hatte nichts daran geändert - wenn das momentan auch kein Grund für Freudenausbrüche war.
Er wurde fast von dem Wunsch überwältigt, sie fest in den Armen zu halten, jetzt auf der Stelle. Er wusste, dass ihr nichts weiter fehlte, aber allein schon der Gedanke daran, dass die Agenten sie gestoßen hatten - ihr einen Elektroschock versetzt hatten, verdammt noch mal! - , brachte sein Blut vor Wut zum Kochen. Ihre Angst und ihre Schmerzen hallten immer noch als fernes Echo in seinen eigenen Venen nach.
Es gab allerdings eine Sache, die jetzt anders an ihm war als früher: die Verbindung, die er ihr mit seinem ungebetenen Biss gestohlen hatte. Auch wenn Claire ihn deswegen noch nicht verdammt hatte, würde er für den Rest seines Lebens an der Schuld für seine Tat tragen. Besonders dann, wenn er das Leben aus Wilhelm Roth herausgepresst und sie zur Witwe gemacht haben würde.
Ein eigensüchtiger Teil von ihm fand die Aussicht auf Roths unmittelbar bevorstehenden Tod sogar noch attraktiver, wenn Claire dadurch frei kam und sich einen neuen Gefährten erwählen konnte.
Besonders, wenn er selbst dieser neue Gefährte sein konnte. Aber auch wenn er sich schon durch ihr Blut mit ihr verbunden hatte, verdiente Claire mehr als das, was er ihr geben konnte. So wie es schon immer der Fall gewesen war.
„Hast du Hunger?“, fragte er sie, begierig, sich abzulenken von seinen Grübeleien darüber, was er ihr alles angetan hatte, jetzt und damals. „Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen. Du musst am Verhungern sein.“
Sie zuckte verhalten die Schultern. „Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, jetzt schon anzuhalten...“
„Du brauchst etwas zu essen“, sagte er, schärfer als beabsichtigt. „Wir halten an.“
Als Stammesgefährtin hingen Claires Gesundheit und alterslose Langlebigkeit davon ab, dass sie regelmäßig das Blut eines Stammesvampirs zu sich nahm, aber ihr Körper brauchte trotzdem Essen, um zu funktionieren. Es war Reichen verdammt noch mal lieber, Zeit darauf zu verwenden, ihr ein Sandwich zu besorgen, als darüber nachzudenken, wie Wilhelm Roth Claire auf die Weise nährte, wie es nur ihr wahrer Gefährte tun konnte. Wie lange es wohl schon her war, seit sie zuletzt Nahrung aus Roths Vene zu sich genommen hatte? Nicht lange, schätzte er, so jung und stark, wie sie aussah. Er fragte sich, wie lange es her war, dass sie mit Roth geschlafen hatte. Hatte sie ihn je geliebt?
Die bitteren Fragen lagen ihm auf der Zunge, aber er unterdrückte sie. Er wollte nicht wissen, auf welche Art Wilhelm Roth mit Claire zusammen gewesen war oder vor wie langer Zeit. Sie gehörte nicht ihm, und er tat besser daran, all seine Gedanken an sie zu verdrängen und sich auf die einzige Sache zu konzentrieren, die noch für ihn zählte - sein Versprechen zu halten. Die unschuldigen Opfer zu rächen, die Roth auf dem Gewissen hatte.
War er dazu nicht in der Lage, dann war er zu nichts mehr nütze, weder für sich noch für irgendjemanden sonst.
Eine Weile fuhr Reichen schweigend, er musste sich anstrengen, die Tatsache zu ignorieren, dass nur ein kleiner Streifen von Leder und Plastik ihn von Claire trennte. Wenigstens hatte er in Roths Büro nicht wieder einen pyrokinetischen Anfall gehabt. Diesen kleinen Segen hatte er vermutlich Claires Blut zu verdanken. Als er ein paar Straßen von dem Büro entfernt ihre Not gespürt hatte, waren die Feuer in seinem Inneren sofort aufgeflammt, aber in der Zeit, die er für den Rückweg gebraucht hatte, um sich die Agenten vorzunehmen, die ihr wehtaten, war es ihm irgendwie gelungen, die Flammen am Auflodern zu hindern.
Es war verdammt knapp gewesen.
Obwohl er ihr immer wieder versichert hatte, dass sie bei ihm in Sicherheit war, wusste er, dass seine zerstörerische Macht eine sehr reale Gefahr für sie darstellte. Je öfter er sie einsetzte, desto mehr entglitt sie seiner Kontrolle. Er wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis das Feuer, das in ihm eingesperrt war, völlig außer Kontrolle geriet.
Was mit ihm geschah, kümmerte ihn nicht, aber wenn die Hitze ihn überwältigte, solange Claire in der Nähe war... Reichen betrachtete ihr hübsches Profil im milchigen Licht des Armaturenbretts. Sie hatte den Kopf gesenkt und versuchte, einen losen Faden an ihrem Pullover glatt zu ziehen. Sie konzentrierte sich auf den kleinen Makel, zwirbelte den Faden zwischen ihren schlanken Pianistinnenfingern, ihr offenes ebenholzschwarzes Haar wehte leicht im warmen Luftstrahl aus dem Lüftungsschlitz der Klimaanlage.
„Wovor hat er Angst?“, murmelte sie. Sie sah zu ihm hinüber, jetzt mit gerunzelter Stirn. „Was ist es, das Wilhelm unbedingt vor dir schützen will?“
Reichen schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, und ehrlich gesagt ist mir das auch egal. Es interessiert mich nicht, warum er tat, was er getan hat. Mich interessiert nur noch eins: Er muss bezahlen.“
Sie drehte sich in ihrem Sitz zu ihm, ein hartnäckiger Argwohn glänzte in ihren dunklen Augen. „Er fühlt sich von dir bedroht, Andreas. Nicht wegen irgendetwas, das in den letzten beiden Nächten geschehen ist, sondern schon vorher.
Warum würde er sonst zu einer so drastischen Maßnahme greifen wie einem Überfall auf deinen Dunklen Hafen?“
„Ich schätze, ihm hat nicht gefallen, dass ich in seinen Angelegenheiten herumgeschnüffelt habe. Er dachte wohl, dass er mir einen Denkzettel verpassen muss.“
Claire nickte grimmig. „Und was dachte er wohl, was du herausfinden würdest? Ich kann nicht glauben, dass es irgendetwas mit diesem verschwundenen Mädchen aus dem Club zu tun hatte. Dafür ist ein solcher Vergeltungsschlag, wie du ihn beschrieben hast, einfach unverhältnismäßig.“
„Du glaubst mir also?“, fragte er.
Sie sah ihn mit einem ehrlichen, unverwandten Blick an. „Ich will dir nicht glauben, aber nachdem ich heute Nacht mit Wilhelm geredet habe... Es fällt mir jetzt schwerer, an deinen Worten zu zweifeln, als ihm auch nur noch ein Wort zu glauben. Du hast ihm Angst gemacht, Andre. Er hat immer noch Angst davor, was du wissen oder ihm antun könntest. Die Frage ist nur, warum? Was schützt er... oder wen?“
Bei Claires Worten bildete sich in Reichens Eingeweiden ein eiskalter Klumpen. Er hatte sich nie gefragt, warum Roth es so sehr auf ihn abgesehen hatte. Er hatte immer angenommen, dass es eine Kombination von alter Feindseligkeit und neuer Gelegenheit gewesen war, als Reichen Helene unwissentlich in Roths Fadenkreuz geschickt hatte.
Die Frage nach dem eigentlichen Grund war ihm nicht wichtig erschienen. Nicht nach dem Gemetzel, als Wut und Kummer ihn beherrscht hatten.
Seine Wut und sein Verlangen nach Rache hatten ihn blind gemacht. Er hatte nie innegehalten, um über die einfache Frage nachzudenken, auf die Claire ihn soeben aufmerksam gemacht hatte.
Roth hatte etwas sehr Bedeutsames zu verbergen.
Etwas viel Weitreichenderes als seine Rolle bei den kriminellen Seilschaften von Gaunern und Politikern aus dem Dunstkreis der Agentur. Er musste ein Geheimnis von monumentalen Ausmaßen wahren.
Etwas, das es wert war, ohne Zögern das Leben von über einem Dutzend Stammesangehörigen zu opfern. Und sogar noch mehr, dessen war Reichen sich nun sicher.
Als er auf den dunklen Asphaltstreifen der Straße hinausstarrte, kam ihm plötzlich ein Name in den Sinn: Dragos.
Herr im Himmel. Konnte es zwischen diesen beiden eine Verbindung geben? War er kurz davor gewesen, ein Bündnis zwischen Dragos und Roth aufzudecken?
Auch wenn er bisher schon Grund genug gehabt hatte, den Orden in Boston zu kontaktieren - auf einmal konnte er ihn nicht schnell genug erreichen.
Reichen trat aufs Gas, seine Gedanken rasten, so finster wie die nächtliche Landschaft, die an den Fenstern des Geländewagens vorbeiflog.
Einige Minuten nachdem sie die Stadt verlassen hatten, entdeckte er ein Internetcafe. Er nahm die Ausfahrt und hielt darauf zu, wobei er inständig betete, dass er sich irrte.
Und wenn sein Bauchgefühl nun doch recht hatte?
Ach Scheiße.
Wenn es recht hatte, dann hatte er gerade seinen eigenen Sargdeckel zugenagelt, und den von Claire gleich mit.
Er ging mit ihr in das Cafe und suchte sich einen unbesetzten Computer und Tisch, so weit von den anderen Gästen entfernt wie nur möglich. Mit dem Geld, das er den toten Agenten abgenommen hatte, bezahlte er eine Schale Suppe und ein Sandwich für Claire und sich selbst eine Stunde Internet.
Während sie sich über ihr Essen hermachte, öffnete er einen Browser und rief die gesicherte Seite auf, über die man den Orden in Notfällen kontaktieren konnte. Die Seite war unauffällig, sie bestand nur aus einem schlichten schwarzen Hintergrund, auf dem ein leeres Eingabefeld blinkte und auf Input wartete.
Reichen tippte einen Zugangscode und das Passwort ein, das Gideon ihm vor einigen Monaten in Boston gegeben hatte, als er begonnen hatte, aus der Ferne für den Orden zu arbeiten. Er drückte auf die Entertaste und wartete, unsicher, ob der individuelle Zugangscode, den man ihm zugeteilt hatte, überhaupt noch gültig war. Dann verschwand das Eingabefeld, und er starrte auf den leeren schwarzen Bildschirm.
„Und, funktioniert es?“, fragte Claire und beugte sich dicht über ihn. Reichen schüttelte den Kopf.
Wahrscheinlich hatten die Krieger ihn inzwischen abgeschrieben, hielten ihn für tot. Schließlich hatte er sich seit der Zerstörung seines Dunklen Hafens vor drei Monaten nicht mehr bei ihnen gemeldet.
„Diese Seite ist die Verbindung zum Bostoner Hauptquartier. Sie ist komplett verschlüsselt und wird vom Orden ständig überwacht. Sobald ich identifiziert bin, sollten wir eine Antwort von Gideon bekommen.“
Kaum hatte er ausgeredet, erschien das Eingabefeld wieder, mit der Aufforderung, seine Kontaktdaten einzugeben. Reichen tippte die Nummer eines der Agenturhandys ein, mit dem Hinweis, dass das Gerät gestohlen war, höchstwahrscheinlich abgehört wurde und alles andere als sicher war.
Gideon antwortete prompt: Verstanden, kein Problem. Rufe jetzt auf verschlüsselter Leitung an.
Das Handy klingelte.
Reichen nahm den Anruf entgegen. Eine Computerstimme sagte: Identifizieren, bitte. Er nannte seinen Namen und eine Reihe von Passwörtern.
„Verdammtes Glück, dass ich so faul war und deine Zugangsdaten im System behalten habe“, sagte Gideon, als die Verbindung zustande kam. „Himmel noch mal, schön, deine Stimme zu hören, Reichen.
Aus Deutschland hieß es nur, dass wir dich verloren haben. Ich sehe, du hast dich in Hamburg eingeloggt.
Was zur Hölle ist da drüben los?“
Reichen versuchte, die Ereignisse der letzten paar Wochen möglichst kurz und präzise zusammenzufassen, angefangen bei Wilhelm Roths Überfall auf seinen Dunklen Hafen bis zu den systematischen, oft im wahrsten Sinne des Wortes hitzigen Vergeltungsschlägen, die er seither an dem Vampir und seinen bekannten Verbündeten verübt hatte.
Er sagte Gideon, dass Roth und seine Spießgesellen von der Agentur ihm immer noch auf den Fersen waren und die Situation sich eben noch weiter kompliziert hatte, weil jetzt auch Claire mit ihm auf der Flucht war. Und das Thema Claire konnte er nicht erwähnen, ohne zu gestehen, was er ihr in Roths Büro angetan hatte.
„Um Himmels willen, Reichen“, zischte der Krieger am anderen Ende. „Sie ist seine Gefährtin, sie haben eine Blutsverbindung. Dafür hat er alles Recht der Welt, dich umzulegen. Hölle noch mal, er könnte dich in jedem Dunklen Hafen weltweit umlegen, ohne dass es irgendwelche Folgen für ihn hätte.“
„Ich weiß.“ Er konnte nicht umhin, zu Claire hinüberzusehen und zu denken, wie sehr er doch ihr Leben in den paar Tagen, die sie jetzt mit ihm zusammen war, aus der Bahn geworfen hatte.
„Was Roth mir antun kann, ist mir egal. Es ist Claire, die jetzt Schutz braucht. Roth ist außer sich, und ich würde ihm zutrauen, dass er seinen Ärger an ihr auslässt. Eben erst haben seine Agenten versucht, sie auf seinen Befehl mit Gewalt abzuführen. Einer von ihnen hat ihr einen Elektroschock versetzt, bevor ich ihn ausschalten konnte.“
Gideon stieß einen scharfen Seufzer aus. „Meine Fresse. Dieser Roth ist ein echtes Schätzchen, was?“
„Er ist ein Gangster der übelsten Sorte“, sagte Reichen. „Und da ist noch mehr. Ich habe den Verdacht, dass er möglicherweise in etwas viel Größeres involviert ist als seine üblichen zwielichtigen Geschäfte. Er könnte mit Dragos im Bunde sein.“
„Ach du Scheiße... Hast du was Konkretes, oder sagt das dein Bauchgefühl?“
„Erst mal nur Bauchgefühl, aber es würde mich nicht überraschen.“
„Okay“, sagte Gideon. Jetzt war das Geräusch seiner Finger zu hören, die über eine Tastatur flogen, während der Krieger in Hoston sprach. „Zuallererst müssen wir euch beide aus Hamburg rauskriegen. Ich organisiere euch eben jemanden, der euch abholt, aber unser Flieger kann frühestens morgen Abend bei euch sein. Könnt ihr euch die nächsten paar Stunden vor Sonnenaufgang irgendwo verstecken?“
Reichen dachte nach, was für Möglichkeiten ihnen blieben - sie waren spärlich bis nicht existent. „Hier haben wir nichts Sicheres, fürchte ich. Roth hat seine Finger in den Taschen von zu vielen Leuten. Hier könnte uns jeder an ihn ausliefern.“
„Verstanden. Okay, hör zu. Ihr seid nur etwa drei Zugstunden von Dänemark entfernt. Wenn wir dort bei einem Freund des Ordens eine Zuflucht für euch arrangieren, denkst du, ihr schafft den Trip dorthin auf eigene Faust?“
„Klar“, sagte Reichen entschlossen. Seine Schusswunde heilte inzwischen schnell, und seine Kraft war wieder voll zurückgekehrt. Verdammt, wenn es sein musste, würde er zu Fuß nach Dänemark gehen und Claire in seinen Armen hinübertragen.
Wieder ertönten Tastaturgeräusche im Hintergrund.
„Ich schicke eben die Anfrage zu unserer Kontaktperson raus“, sagte Gideon. „Sollte nur eine oder zwei Minuten dauern, bis sie sich meldet.“
„Gideon“, unterbrach ihn Reichen. „Ich kann dir nicht genug danken.“
„Nichts zu danken. Du hast uns schon so oft aus der Patsche geholfen. Jetzt sind wir mal dran.“ Am anderen Ende gab es eine kleine Pause, dann ertönte ein leises Kichern. „Okay, wir haben eben die Bestätigung aus Dänemark. Eure Kontaktperson holt euch am Bahnhof von Varde ab. Sie wird nach euch Ausschau halten. Und ihr haltet die Augen auf nach einer groß gewachsenen Blonden mit einem Kleinkind an der Hüfte. Sie heißt Danika.“
Reichen lauschte, dann nickte er Claire beruhigend zu. „In Ordnung. Wir sind auf dem Weg.“
Dragos erwachte schlagartig aus einem Albtraum, kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er setzte sich im Bett auf und blinzelte seine Umgebung an, erleichtert, dass er sich nach wie vor in seinem luxuriösen Hauptquartier befand. Immer noch Herr und Meister seiner verborgenen unterirdischen Domäne, die er vor über hundert Jahren auf einem riesigen Grundstück in Connecticut aus Granit und Muttergestein gehauen hatte. Es war alles noch da.
Der Albtraum war nicht real.
Oder zumindest noch nicht.
Und würde es auch nie sein, wenn er dabei ein Wörtchen mitzureden hatte.
Seit Dragos vor einigen Wochen die Vision seiner demütigenden Niederlage gesehen hatte - in den Hexenaugen eines kleinen Mädchens, das inzwischen vom Orden versteckt wurde - , war er von Albträumen geplagt.
Der Anblick seines Labors verfolgte ihn, wie es in Rauch und Trümmern lag, all seine kostbare technische Ausrüstung zerschmettert und zerstört... und der UV-Licht-Käfig leer, sein monströser Bewohner - Dragos' Geheimwaffe - nicht länger darin gefangen.
Am schlimmsten war es gewesen, die jämmerliche Zukunftsvision seiner selbst zu sehen: Wie er besiegt auf den Knien lag und um Gnade bettelte.
„Niemals“, stieß er scharf hervor, als könne er die prophetische Enthüllung des Kindes allein durch seine Wut verhindern.
Er stieg aus dem Bett, warf sich einen seidenen Morgenmantel über den nackten Körper und stapfte aus seinem Schlafzimmer ins Arbeitszimmer nebenan. Auf dem antiken, mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Schreibtisch, der einst einem Kaiser gehört hatte, stand ein riesiger Touchscreen- Monitor. Dragos fuhr mit dem Finger über die glatte Oberfläche und rief das Bild einer Überwachungskamera aus seinem Labor auf.
Ach ja, dachte er, beunruhigt vom Ausmaß seiner Erleichterung. Es ist alles noch da.
Der Schein der eng stehenden vertikalen UV-Licht- Stangen blendete schmerzhaft seine hyperempfindlichen Augen, aber er kümmerte sich nicht darum. Er zoomte sich näher an die lethargische, halb verhungerte Kreatur heran, die in der Zelle gefangen war - die Kreatur, deren Gene er in sich trug. Der tödliche Außerirdische, der sein Großvater war. Nicht, dass Blut und Gene ihm persönlich etwas bedeuteten. Jedoch waren die mächtigen Blutzellen und DNA des Ältesten wesentlicher Bestandteil von Dragos' Plänen. Jahrzehntelang hatte er gearbeitet, sich jahrhundertelang geduldig im Untergrund versteckt und seine Schachzüge geplant, während er darauf gewartet hatte, dass die Zeit für seinen großen Schlag gekommen war. Und nun stand Dragos' Krönung fast unmittelbar bevor.
Er würde verdammt sein, wenn er sich all das vom Orden aus den Händen reißen ließ, bevor er die Chance hatte, sich den Ruhm zu sichern, der ihm allein zustand. Er hatte bereits Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, dass die Vision, die er mit angesehen hatte, sich erfüllte. Er hatte an seiner Operation einige Veränderungen vorgenommen.
Teure und etwas drastische Maßnahmen ergriffen, um seine Vermögenswerte zu schützen.
Und keinesfalls würde er tatenlos zusehen, wie die Krieger in Boston seine Arbeit störten. Der Orden war ein Problem, auf das er verzichten konnte - das er sich so kurz vor dem Sieg nicht leisten konnte. Sie hatten ihm offen den Krieg erklärt, als sie im letzten Sommer seine Versammlung vor Montreal gestört und ihn und seinen privaten inneren Kreis von hochrangigen Stammesverbündeten gezwungen hatten, in die Wälder zu fliehen wie Ratten von einem sinkenden Schiff.
Es war ein unerwarteter Schlag gewesen, der seine Autorität untergraben und ihn wertvolle Zeit gekostet hatte. Er würde dafür sorgen, dass die Krieger bezahlten.
Aber Dragos hatte auch noch ein anderes Problem.
Er rief die Videokonferenzsoftware auf seinem Computer auf und wählte Wilhelm Roths Quartier am anderen Ende der Festung. Der deutsche Vampir, in der Hamburger Agentur ein kompromissloser Direktor, war zweifellos nicht daran gewöhnt, die Rolle des Untergebenen zu spielen, und Dragos amüsierte der Gedanke, wie dieser frühe Weckruf am Vormittag den Mann verärgern würde. Man musste ihm zugutehalten, dass er den Anruf schon vor dem zweiten Klingeln annahm, tüchtig wie immer. Das war auch einer der Gründe, warum Dragos bei ihm Nachsieht walten ließ. Das und die Tatsache, dass Roth rücksichtslos seine Pläne verfolgte.
„Sir“, sagte er und hielt sein Gesicht vor den Monitor in seinem Quartier. „Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Statusreport“, verlangte Dragos und starrte seinen Untergebenen an.
Roth räusperte sich. „Es ist alles arrangiert. Die erste Phase der Operation hat gestern Abend begonnen. Es dürfte nicht lange dauern, bis es zu ersten Kampfhandlungen kommt.“
Dragos grunzte beifällig. „Und die andere Angelegenheit?“
Ein kurzes Zögern, aber das war auch alles.
Dragos fragte sich, ob Roth sich darüber im Klaren war, dass sein Leben in diesem Augenblick von seiner Ehrlichkeit abhing. Roth räusperte sich. „Ich habe in Hamburg mit einem... persönlichen Problem zu tun, Sir.“
„Ja“, sagte Dragos. Es war nicht nötig, viele Worte zu machen. Seine Kontaktleute in Übersee hatten ihm schon alles über die vernichtenden Anschläge auf zwei Residenzen des Deutschen berichtet. Er hatte auch gehört, dass Roths Stammesgefährtin vermisst wurde. Nach einem Zusammenstoß mit Agenten in Roths Hamburger Privatbüro war sie anscheinend entführt worden - von dem Vampir, der offensichtlich ein Hühnchen mit Roth zu rupfen hatte.
Einem Vampir, dem Kontakte zum Orden nachgesagt wurden.
Dragos' Kiefer verkrampfte sich vor Wut, als er daran dachte, was für Schwierigkeiten ein solches Szenario ihm einbringen konnte.
„Was beabsichtigen Sie zu unternehmen, Herr Roth?“
„Ich werde mich darum kümmern, Sir.“
„Das will ich hoffen“, zischte Dragos. „Ich bin sicher, ich muss Ihnen nicht sagen, dass die Frau damit zu einer Belastung für uns geworden ist. Wenn sie dem Feind in die Hände gefallen ist, ist sie nur noch eine Waffe, die gegen Sie verwendet werden kann - und gegen mich.“
Roth starrte Dragos an, seine durchdringenden Augen wurden schmal. „Sie hat keine Ahnung, wo ich bin. Ich habe ihr nie wichtige Informationen anvertraut. Außerdem weiß sie, dass sie sich aus meinen Angelegenheiten herauszuhalten hat.“
„Und was denken Sie, wie lange es dauert, bis ihr Entführer Sie durch Ihre Blutsverbindung geortet hat?“, fragte Dragos. „Wenn man sie benutzt, um Sie zu finden, findet man auch mich.“
„Dazu wird es nicht kommen, Sir.“
„Ich verlange eine dauerhafte Lösung dieses Problems“, sagte Dragos. Er wusste, was er dem Mann da abverlangte. „Sind Sie bereit, dafür zu sorgen, Herr Roth?“
Der Deutsche lächelte kalt. „Ihr Wunsch ist mir Befehl, Sir.“
Dragos nickte. „Gut. Solange die Frau am Leben ist, ist Ihre Anwesenheit natürlich Gift für diese Operation. Ziehen Sie sich nach Boston zurück, bis Sie mir glaubhaft versichern können, dass Sie dieses Problem eliminiert haben. Sie reisen bei Sonnenuntergang, Herr Roth.“
Der Vampir neigte ehrerbietig den Kopf. „Natürlich, Sir. Ganz wie Sie wünschen.“